Europa im Innovationswettlauf: Stimmen aus Deutschland fordern mehr Geld, weniger Bürokratie und klare Prioritäten
Als Mario Draghi jüngst seinen viel beachteten Bericht zur Wettbewerbsfähigkeit der EU vorlegte, macht er deutlich: Europa müsse den Innovationsrückstand gegenüber den USA und China aufholen. Um das zu schaffen, brauche es vor allem eines: mehr Geld für Forschung und Innovation. Dieser Gedanke findet auch in den nachfolgenden acht Positionspapieren zum FP10 breiten Widerhall:
- das Bundesministerium für Bildung und Forschung, BMBF
- der Bundesrat Deutschland
- die EU Liaison Officers of German University Hospitals
- German U15
- der Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI
- die Helmholtz-Gemeinschaft Deutscher Forschungszentren
- die Deutsche Forschungsgemeinschaft, DFG
- Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e.V.
Das Budget: Einig und doch nicht genug?
In einem Punkt herrscht weitgehend Einigkeit: Die Mitgliedstaaten der EU sollen in Zukunft drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts in Forschung und Innovation (F&I) investieren. Das klingt zunächst einmal ambitioniert, doch Draghis Ziel liegt noch höher: fünf Prozent. Auch beim Budget für FP10 fordern die deutschen Akteure eine deutliche Erhöhung: Von derzeit 100 Milliarden Euro soll es auf 200 Milliarden anwachsen, zweckgebunden für Forschung & Innovation. Die DFG kritisiert, dass bisher nicht verwendete Forschungsgelder statt zurück ins Forschungsprogramm zu fließen, an die Mitgliedstaaten zurückgehen.
Bundesrat und BMBF äußern bisher keine konkreten Budgetvorstellungen zum FP10. Diese werden erst im Zuge der Verhandlungen zum Mehrjährigen Finanzrahmen der EU erwartet.
Wissenschaftsexzellenz: Eine heilige Kuh
Die finanzielle Stärkung der ersten Säule von „Horizon Europe“, der „Wissenschaftsexzellenz“, steht hoch im Kurs. Vor allem der Europäische Forschungsrat (ERC) und die Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen (MSCA) sind unbestrittene Favoriten – nicht nur in den deutschen Positionspapieren, sondern auch in den übrigen derzeit vorliegenden europäischen Positionspapieren.
Streitthema „Missionen“
Spannungen gibt es jedoch bei der zweiten Säule, den „Globalen Herausforderungen und der industriellen Wettbewerbsfähigkeit“. Die fünf Missionen spalten die Meinungen der europäischen Stakeholder, die sich bisher offiziell zur Gestaltung des FP10 geäußert haben. In Deutschland zeigt sich das BMBF als Befürworter der Missionen, während die Helmholtz-Gemeinschaft kritisiert, dass andere Forschungsbereiche für deren Finanzierung zurückstecken mussten. German U15 moniert, dass die Ausschreibungen zu stark politisch motiviert und zu wenig auf Forschung und Innovation fokussiert seien – eine Meinung, die europaweit Anklang findet.
Der BDI fordert, die Missionen für die Industrie zu öffnen und sie verstärkt auch über die Strukturfonds zu fördern. Fraunhofer hingegen übt scharfe Kritik an den Missionen: Sie sollten am besten abgeschafft werden – zu kompliziert und fragmentiert. Ähnliche Stimmen kommen aus Ländern wie der Schweiz und Litauen. Die Missionen – so scheint es – zählen zu den unbeliebtesten Bestandteilen des aktuellen 9. Rahmenprogramms für Forschung und Innovation ‚Horizon Europe‘.
Synergien, Cluster, TRLs: Eine Frage der Details
Die Universitätskliniken fordern bessere Synergien zwischen Missionen, Clustern und Europäischen Partnerschaften, um Dopplungen zu vermeiden.
Fraunhofer möchte die Partnerschaften ausbauen, weil sie Forschung und Entwicklung wirksam mit der Industrie verbinden. Doch es müsse transparenter und einfacher gehen. German U15 und die Universitätskliniken wünschen sich zudem weniger, aber spezifischere Partnerschaften – ein Anliegen, das auch international geteilt wird.
Beim Thema Technologie-Reifegrad (TRLs) mahnen die meisten Akteure zur Vorsicht: Es müsse die gesamte Bandbreite an TRLs gefördert werden, betonen der Bundesrat, German U15, Fraunhofer und Helmholtz. Der BDI hingegen fordert, stärker auf höhere TRLs zu setzen, um die Entwicklung marktfähiger Technologien voranzutreiben.
Innovation: Mehr Risiko, weniger Bürokratie
Für die dritte Säule, „Innovatives Europa“, hält sich die Begeisterung der deutschen Akteure in Grenzen. Das BMBF begrüßt zwar die Innovationsökosysteme, doch der BDI kritisiert die schleppenden Prozesse des Europäischen Innovationsrats (EIC) und bemängelt eine Unterrepräsentation der Industrie Im Rat selbst. Start-ups würden sich deshalb lieber anderswo nach Fördermöglichkeiten umsehen. Fraunhofer erkennt den Nutzen des EIC, fordert aber entschieden die Abschaffung des Europäischen Instituts für Innovation und Technologie (EIT) mitsamt seinen Wissens- und Innovationsgemeinschaften (KICs): zu teuer, zu unattraktiv.
Forschungssicherheit und Dual-Use: Vorsicht ist geboten
Beim Thema Forschungssicherheit plädiert die DFG für eine fallspezifische Risikoanalyse, ohne die Forschungsfreiheit zu beschneiden. Europäische Forschungsakteure, die mit Drittstaaten kooperieren, sollen anschließend selbst darüber entscheiden dürfen, ob eine Zusammenarbeit sicher ist (beispielsweise in Bezug auf sensible Forschungsdaten und -ergebnisse). Und auch bei der umstrittenen „Dual-Use-Forschung“ – also Forschung mit sowohl zivilem als auch militärischem Nutzen – gibt es Differenzen. Während die DFG mahnt, zivile Forschung nicht zu benachteiligen, lehnt German U15 Dual-Use-Forschung kategorisch ab. Auf europäischer Ebene wird die Frage zurückhaltend diskutiert: Schweden, Litauen und andere zeigen sich vorsichtig optimistisch.
Weniger Regeln, mehr Freiraum – das ist der Kern der Forderung
Einigkeit besteht: Die Bürokratie muss weg, die Verfahren müssen einfacher werden. Was sinnvoll ist, soll bleiben – wie etwa die Förderung von KMU (sagen der BDI, der Bundesrat und Helmholtz), die stärkere Einbindung der Geisteswissenschaften und mehr Interdisziplinarität (fordern das BMBF, der Bundesrat, die DFG und German U15) sowie die Geschlechtergerechtigkeit. Doch die DFG warnt: Prinzipien wie „Do No Significant Harm“1 und strikte Vorgaben zur Nachhaltigkeit könnten am Ende die Forschungsfreiheit ersticken.
Was kommt?
Die deutschen Positionspapiere spiegeln ein breites Spektrum an Interessen wider, das von der klassischen Grundlagenforschung bis hin zu technologischen Innovationen reicht. Eines ist klar: Europa muss seine Wettbewerbsfähigkeit verbessern, und das geht nur mit mehr und gezielteren Investitionen in Forschung und Innovation. Ob die Vorschläge der deutschen Stakeholder am Ende Gehör finden, hängt vom politischen Willen der EU-Staaten ab – und davon, wie gut sie es schaffen, ihre unterschiedlichen Interessen unter einen Hut zu bringen.
(1) „Keinen erheblichen Schaden verursachen“ bedeutet, dass keine Wirtschaftstätigkeiten unterstützt oder durchgeführt werden, die einem Umweltziel im Sinne von Artikel 17 der Verordnung (EU) 2020/852 erheblichen Schaden zufügen, soweit relevant.